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Die Arbeitskräftenachfrage aus Osttirols Wirtschaft wird dem Angebot zunehmend enteilen. Daher ist Zuwanderung aus ökonomischen Gesichtspunkten eine Notwendigkeit. Osttirol braucht außerdem Zuwanderung, um seine soziale Infrastruktur aufrechterhalten zu können, weil Bevölkerungsabnahme in einem Teufelskreis mündet. Migrationsexperte Mathias Czaika wirft ein Licht auf die Hintergründe und betont die Bedeutung einer Willkommenskultur, die in eine gelebte Integrationskultur übergehen muss: Wer kein Osttiroler ist, soll einer werden können.

Osttirol ist das Berg-Tirol, das Natur-Tirol. Hier gehen die Uhren noch etwas anders, hier scheint alles ein wenig der Hektik und Unberechenbarkeit des Weltenlaufs entzogen. Hier gibt es keinen Overtourism, keine weißen Elefanten, hier wird punktuell sogar damit geworben, gar nichts zu haben. „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts.“ Außer weitestgehend intakter Natur, touristische Infrastruktur in guter Dosierung, Einfallsreichtum und…. Gastfreundschaft. Angeblich.

Angeblich? Gäste, die kommen und bald wieder gehen, tragen zweifellos maßgeblich zur Wertschöpfung der Osttiroler Wirtschaft bei. Was es aber noch viel dringender braucht, sind Menschen im erwerbsfähigen Alter, die als Gäste hierher zum Arbeiten – und natürlich auch Leben – kommen und als Freunde unter Freunden bleiben. Dazu braucht es aber eine echte, gelebte Willkommens- und Integrationskultur.

Willkommenskultur. Das ist so ein Wort, das verbrannt ist. Durch den Zynismus, der mit der Flüchtlingskrise von 2015 wie Gift in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs eingesickert ist. Durch die politische Ausschlachtung des Ausländerthemas, eine jahrzehntelange Pflege des Ressentiments und eine Unterschiedslosigkeit in der Handhabung unterschiedlicher Begriffe. Migration. Asyl. Das ist nicht das gleiche, hier wird aber viel zu wenig differenziert. Der Migrationsdiskurs in Österreich ist vergiftet, wird unterkomplex und unehrlich geführt und politisch bewirtschaftet. Zudem sitzt man in Österreich – und freilich auch in Osttirol – gerne der kollektiven Selbsttäuschung auf, dass Österreich nicht faktisch schon längst ein Ein- und Zuwanderungsland ist. Dieses Land würde ohne Migration seit Jahrzehnten schrumpfen, und mit ihm seine Wirtschaft und seine soziale Infrastruktur. Seine Krankenversorgung und Pflegeeinrichtungen wären allein mit „Autochthonen“ nicht einmal annähernd am Laufen zu halten. Das ist nur ein Aspekt, den man eingedenk einer alternden Gesellschaft nicht vernachlässigen sollte.

Universitätsprofessor Mathias Czaika leitet das Departments für Migration und Globalisierung an der Universität für Weiterbildung Krems. Er ist als Deutscher in Österreich selbst Teil der zahlenmäßig größten Zuwanderergruppe im Land. Durch die gemeinsame Sprache, eine ähnliche Mentalität und Kultur gibt es bei der Integration normalerweise wenig Friktion. Das Konfliktpotenzial ist bei Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen, naturgemäß größer. Das muss man klar benennen. Die Alternative, sich pauschal der Zuwanderung zu verschließen, ist bei näherer Betrachtung keine. Die naive Vorstellung einer homogenen Gesellschaft ist in einem geeinten Europa, in dem es freien Personenverkehr gibt, ohnehin ein Zerrbild.

„Die Faktoren Fertilität, Sterblichkeit und Migration spielen in der Bevölkerungsentwicklung eine zentrale Rolle“, sagt Czaika. Wenn über einen längeren Zeitraum mehr Menschen sterben als geboren werden, braucht es Zuwanderung. So einfach ist das. Dazu kommt erschwerend ein anderer Umstand. „Wenn eine Bevölkerung durch Abwanderung abnimmt, dann vor allem im Bereich der jüngeren Alterskohorten.“ Also genau in der sensiblen Altersgruppe, die am Anfang oder in der Mitte des Erwerbslebens steht und in der Wirtschaft dringend gebraucht wird. Aber nicht nur dort. Diese Gruppe ist es auch, die Kinderbetreuung, Kindergarten- und Schulplätze für ihre Kinder braucht. Wandert sie ab, fällt mangels Auslastung öffentliche und soziale Infrastruktur weg. Dadurch verliert eine Region auch für Zuwanderer an Attraktivität. Derart beginnt ein Teufelskreis, aus dem man nur noch schwer herauskommt. „Man könnte sich als Gesellschaft grundsätzlich auch auf die Position zurückziehen, dass ein Rückbau nichts Schlechtes ist, wenn man lieber unter sich bleiben möchte“, sagt Czaika. Für Osttirol darf das keine ernsthafte Option sein.

Zuwanderung ist aber auch kein Wunschkonzert. Es kommen nicht immer die Menschen her, die – quasi maßgeschneidert – sofort in der Wirtschaft eingesetzt werden können und diese gleich vom Start weg voranbringen. Das ist die Idealvorstellung, die am ehesten durch Binnenzuwanderung – aus anderen Teilen Österreichs, aber auch aus dem angrenzenden Südtirol – eingelöst werden kann. Osttirol sollte sich klarerweise um Binnenzuwanderung bemühen, ohne dabei jedoch andere Menschen, die hierher kommen möchten, um in Osttirol zu leben und arbeiten, aus den Augen zu verlieren. Die Integrationsbemühungen und Anstrengungen werden bei letzteren größer sein müssen als in der Binnenzuwanderung, wo Sprach- und Kulturraum zwischen Zuwanderern und aufnehmender Gesellschaft deckungsgleich sind. Es ist einigermaßen unrealistisch, dass es gelingen wird, Osttirols zukünftige Arbeitskräftenachfrage nur mit Binnenzuwanderung abzudecken.

„Ohne passende Ausbildungs- und Jobmöglichkeiten tun sich Regionen sehr schwer damit, zu wachsen“, so Czaika. Das ist eine gute Nachricht, weil es in Osttirol beides gibt. „Gibt es marktgerecht bezahlte offene Stellen und eine Region wächst dennoch nicht, muss es andere Ursachen geben.“ Das ist keine gute Nachricht. Mathias Czaika zählt einige harte Faktoren auf: „Mangel an bezahlbarem Wohnraum, an sozialer und öffentlicher Infrastruktur…“ Diese allein dürften nicht ausschlaggebend dafür sein, dass Osttirol beim Zuzug noch viel Luft nach oben hat. Da drängt er sich wieder auf, der Begriff „Willkommenskultur“. „Willkommenskultur spielt gerade bei Menschen aus einem anderen Kulturkreis eine ganz wesentliche Rolle. Wenn sich diese Menschen nicht angenommen oder gar abgelehnt fühlen, dann gehen sie wieder, sogar wenn es im Job grundsätzlich passt.“

Wer nicht akzeptiert wird und wem sich nicht die Gelegenheit bietet, sich beispielsweise über Vereine in die Dorfgemeinschaft einzufügen, bleibt fremd. Und geht wieder. Dorthin, wo es eine Community gibt. Dabei zieht die Peripherie gegenüber den Ballungsräumen immer den Kürzeren. „Man muss Zuwanderern die Möglichkeit geben, Osttiroler zu werden. Unterstützt die aufnehmende Gesellschaft und Region diesen Identitätstransfer, dann gelingt Integration, und aus einer anfänglichen Willkommenskultur wird eine gelebte Integrationskultur.“ Osttiroler zu sein, darf keine Frage des Geburtsorts sein. Man muss auch dazu werden können. Dafür braucht es aber zunächst einen Sinneswandel in der Gesellschaft. Integration darf dabei nicht mit Assimilation verwechselt werden. Zuwanderung verändert auch eine aufnehmende Gesellschaft. Wer sich dieser Veränderung aus Prinzip verweigert, wird tendenziell unter sich bleiben können, mit allen negativen Konsequenzen.

„Zuwanderer sollen auch eigene kulturelle Beiträge in die Mehrheitsgesellschaft einbringen können. Die aufnehmende Gesellschaft darf das nicht als Bedrohung interpretieren, nicht als Verlust – sondern als Gewinn. Das ist der Schalter, der umgelegt werden muss.“ Czaika argumentiert, dass dadurch nicht etwa gewachsene Kultur entwertet werde, sondern vielmehr erweitert. „Es braucht dafür einen gewissen Konsens, zu dessen Schaffung vor allem Vereine und gesellschaftliche Initiativen viel beitragen können.“ Die Integrationskraft des Vereinswesens ist beträchtlich, und Osttirol verfügt vom Sport über die Kultur bis hin zum Brauchtum über eine lebendige Szene. Vereine sind ein starker Hebel, um Zugezogene in ihrem neuen Umfeld integrieren zu können. Integration geschieht aber noch effektiver am Arbeitsplatz. Die Betriebe können ihrerseits mit einer offenen Unternehmenskultur und Wertschätzung viel dazu beitragen, dass Integration funktioniert. „Es hat sich bewährt, wenn vor allem während des Onboarding Unterstützung geboten wird. Das funktioniert mit Mentoren oder Buddies sehr gut und strahlt in den Alltag aus. Neue Arbeitskräfte brauchen neben ökonomischen bzw. beruflichen Chancen eine Perspektive, Teil des Ganzen, der Gesellschaft, werden zu können“, weiß Czaika. Im unternehmerischen Kontext habe sich außerdem gezeigt, dass diverse Teams deutlich innovativer seien als homogene. Vielfalt kann also auch ein Qualitätsmerkmal sein. Osttirol ist auch als Innovationsregion davon abhängig.

Wissenschaftlich ist gut belegt, dass es gerade „in Regionen, die die geringste Zuwanderung haben, die größte Ablehnung gibt.“ Man neigt dazu, sich vor dem (zu) wenig Bekannten zu ängstigen. Bekommt das Fremde einen Namen, ein Gesicht, können diese Ängste abgebaut werden. Mathias Czaika betont, dass es bei der Integration einen stärkeren Fokus auf die „best practices“ brauche, auf die zahlreichen Erfolgsgeschichten, weil die Medienlogik vor allem die „bad practices“ ins Rampenlicht rückt. Dabei sind Integrationserfolge weit häufiger als Misserfolge. „Die Arbeitslosenquote unter syrischen Geflüchteten ist höher, als man das vor ein paar Jahren erwartet hat. Dennoch sind über 70 Prozent dieser Menschen in Arbeit“, regt der Migrationsforscher einen Perspektivenwechsel an. Die Versicherheitlichung der Migration hält er für problematisch, wenn auch ansatzweise nachvollziehbar.

„Migration ist – auch im europäischen Kontext – eine Erfolgsgeschichte. Zuwanderung trägt dazu bei, die Bevölkerung zu stabilisieren und den Austausch – nicht zuletzt den ökonomischen – zu verstärken. Zuwanderung hat Österreich insgesamt stärker gemacht, und zwar nicht nur durch die Zuwanderung von EU-Bürgern, sondern auch von Drittstaatsangehörigen“, so Czaika. Er weist darauf hin, dass „Osttirol wie viele andere Regionen auch gar nicht in der privilegierten Situation ist, die Zuwanderer selektieren zu können.“ Zuwanderung ist kein Arbeitskräfte-Buffet, an dem sich die Region nach Gutdünken bedienen kann. Der gesamte Westen schrumpft, und mit ihm Europa, der Kontinent ist nicht mehr das erste Sehnsuchtsziel von Zuwanderern. Das ist mittlerweile, sagt Czaika, eine Illusion. Jüngst hat auch AMS-Chef Johannes Kopf medial geäußert, dass es eigentlich „einen Wettbewerb der Bundesländer um Geflüchtete“ geben sollte. Dieser Gedanke klingt freilich noch fremd. So weit ist nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft (noch) nicht. Osttirol liegt zentral zwischen München und Venedig und kann von einer stärkeren Öffnung nach Außen profitieren, ohne einen Identitätsverlust befürchten zu müssen. Osttirol hat Zuwanderern viel zu bieten: Lebensqualität, Sicherheit, einen modernen Schulstandort bis hinauf in die Hochschulebene, intakte Natur und eine wachsende, innovative und breit aufgestellte Wirtschaft, die gute Jobperspektiven bietet.

Zuwanderung wird für den Bezirk Lienz in Zukunft mehr noch als heute ein Prosperitätsthema sein. Osttirols Wirtschaft braucht Zuzug. Die Zahlen zeigen das ganz klar. Laut einer ÖROK-Prognose werden der Wirtschaft im Bezirk bereits im Jahr 2030 rund 1.300 Arbeitskräfte fehlen. Die Wirtschaft bleibt dadurch unter ihrem Wachstumspotenzial. Aus keiner Statistik herauslesen kann man dagegen die Tatsache, dass Osttirols Gesellschaft auch vom Zuzug profitiert. Bunt ist die Farbe, die einer Gesellschaft am besten ansteht. Wer stur unter sich bleibt, droht zu vergreisen – mit Blick auf die Demografie – und zu verarmen, wenn schon nicht ökonomisch, dann doch jedenfalls geistig. Das kann kein wünschenswerter Zustand sein. Migrationsforscher Mathias Czaika will wachrütteln und dafür sensibilisieren, dass Zuwanderung mit all ihren vor allem kurzfristigen Herausforderungen „eine Erfolgsgeschichte“ sei. Er sieht Gesellschaften und Regionen resilienter und besser für die Zukunft aufgestellt, in denen Menschen, die heute noch Ausländer sein können, morgen bereits dazugehören.

Zuzug ist nicht böse. Er ist eine gesellschaftliche Chance. Er ist eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

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