Keiner hat gesagt, dass es einfach wird. Weltweit arbeiten Länder, Regionen, Städte an Mobilitätskonzepten. Und je mehr öffentliche Verkehrsmittel in Städten beispielsweise zur Verfügung stehen, desto leichter scheint die Umsetzung zu sein. Doch der Bezirk Lienz ist ländlich. Und sehr alpin. Und häufig dünn besiedelt. Trotzdem gilt auch hier, was 195 Länder im Pariser Klimaabkommen unterzeichnet haben – Stichwort Klimaziele und -neutralität, CO2, Mobilitätsgarantie … „Ein Jahrhundertprojekt“, so steht’s im Masterplan 2030. Für die Länder, für Österreich – erst recht für Osttirol. Aber weil hier eben alles anders ist, gibt‘s auch andere Lösungen. 

Alltag ohne Auto?

Die Mobilität macht rund ein Drittel der Treibhausgas-Emissionen aus. Also setzt der Mobilitätsmasterplan 2030genau da an. Er gilt für ganz Österreich. Nur: Die meisten Maßnahmen sind auf den urbanen Raum abgestimmt. Dort, wo Tram oder U-Bahn nur wenige Fußminuten von der Haustür entfernt liegen. Wo der nächste Supermarkt um die Ecke ist, auch der Kindergarten, wo der Zahnarzt mit der S-Bahn zu erreichen ist, die Arbeitsstelle mit dem Bus. Und das mit Tages-, Wochen, oder Jahreskarten. Wer in der Stadt lebt, braucht kaum ein Auto – und fährt vor allem günstiger mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. In Osttirol ist der Alltag ohne Auto kaum denkbar. Eigentlich.

Osttiroler Mobilitätsgarantie

Worauf man hier besonders stolz ist: dass es in jedem Tal längst Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel gibt, im Stundentakt natürlich. „Das allein war eine sehr große Errungenschaft“, sagt der Mobilitätsbeauftragte Manfred Mair. Und er weiß: Eine umfassende Mobilität leistet nicht nur einen sehr großen Beitrag, dass die Region lebenswert bleibt, sondern dass die Lebensqualität noch besser wird. 

Und so sind – wie bei allen beteiligten Ländern und Regionen der Welt – auch in Osttirol die drei Vs das große Thema: Vermeiden. Verlagern. Verträglich abwickeln. Keine große Herausforderung in einem Ballungsraum, wo man von der U-Bahn zur Tram nur die Rolltreppe nach oben fahren muss. Nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, wo Menschen bis auf 1.800 Meter weit oben wohnen und nur schmale Bergstraßen hinunter zu den Hauptverkehrsadern und damit zu den Busstationen führen. Oder? Von wegen. Hier hat man andere, kreative Lösungen. 

V wie Vermeiden

Die erste große Herausforderung: V wie Vermeiden. Wer nicht gerade in der Stadt Lienz lebt, besitzt meist ein Auto. Es ist der Reiz der Region – und das für immer mehr Menschen – von der Sonnenseite aus der Höhe den Blick ins Tal und über die Bergwelt schweifen zu lassen. Und das möglichst in Alleinlage. Ein Trend, der auch für Raumplanereine große Herausforderung darstellt. Demgegenüber stehen jedoch immer mehr regionale Produzenten, die Lebensmittel rund um die Uhr in kleinen Hofläden anbieten – oft gut mit dem Fahrrad zu erreichen. Dazu bieten immer mehr Gemeinden Co-Working-Plätze an. 

Und der Obertilliacher Volkschuldirektor Andreas Mitterdorfer hat kürzlich einen ganz neuen Weg zur Vermeidung eingeschlagen. Eigenhändig hat er neue „Busstationen“ beschildert. Vom neuen Pedi-Bus (lat. von pes – der Fuß), den die 20 Dorfkinder von nun an gemeinsam „nutzen“ – sie gehen zu Fuß. Das Prinzip ist einfach: Sechs „Haltestellen“ decken einen guten halben Kilometer ab. Die Großen warten jeweils auf die Kleineren, gemeinsam geht’s dann weiter bis zum Schulhaus. Pro Strecke gibt’s ein Pickerle in den Pedi-Bus-Pass, mit zehn Pickerlen wartet eine kleine Belohnung. Ziel erreicht: Das Familienauto bleibt stehen. 

Das Anrufsammeltaxi im Bezirk Lienz
Das Anrufsammeltaxi – Mobilität für jeden

V wie Verlagern

Die zweite große Herausforderung: V wie Verlagern. In der Stadt ist es leichter, Menschen zum Umstieg zu bewegen, also vom Auto mit Verbrennungsmotor auf nachhaltige Verkehrsmittel wie Bus, Bahn oder E-Carsharingumzusteigen. Ein Umstand, mit dem sich auch Jens Dangschat beschäftigt. Der deutsche Soziologe und emeritierte Universitätsprofessor von der TU Wien lebt nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in Osttirol. Er berät unter anderem im Rahmen des Centre for Mobility Change (CMD) Gemeinden, Unternehmen und Vereine dabei, die Mobilitätswende umzusetzen. 

„Wir brauchen eine völlige Umkehr“, sagt er. „Das muss bei unseren Einstellungen und Verhaltensweisen beginnen.“ Der Anfang dazu ist gemacht: Wer sein Auto stehen lassen will, informiert sich am besten auf der Osttiroler Mobilitäts-Website zu allen Möglichkeiten. Mobility as a Service lautet das internationale Schlagwort: MaaS 

ist die Zukunft. Und die bringt, dass alle Mobilitätsanbieter unter dem Dach einer einzigen Plattform zu buchen sind. Derzeit stehen auf der Website alle Möglichkeiten zur Wahl. Im nächsten Schritt lassen sich Fahrkarten buchen und später der gesamte Trip planen. 

Apropos Trip: Auch Urlauber finden in Osttirol ein breites Mobilitätsangebot ohne Auto: Die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist mit der Gästekarte kostenfrei. Dazu kommen Hüttentaxis und Wanderbusse, teils als Rufbussystem. Die meisten Hotels und Unterkünfte verfügen über E-Bikes. „Bis zum Winter sollen auch Urlauber das E-Carsharing Flugs nutzen können“, sagt Otto Trauner vom Tourismusverband. Man arbeite zudem an einem Konzept mit Standortbetreibern und der RegionalEnergie Osttirol. Derzeit reicht das Angebot vom elektrischen Gemeindemobil über E-Carsharing bis hin zum Hütten- und Anrufsammeltaxi. Das alles miteinander zu kombinieren, ist übrigens Teil des internationalen Erfolgskonzepts. Ein Wissenschaftler würde von Multi- und Intermodalität sprechen. Eine Osttirolerin oder ein Osttiroler fährt halt mit dem Rad zum Bus und von dort öffentlich weiter. Oder man macht, was Dangschat empfiehlt: Umdenken zum Umstieg. Bankdirektor Alois Ortner in Sillian hat bereits vor zwei Jahren einfach einen Vorstoß gewagt. Mit Erfolg.

Fahrradfahren in Osttirol
Der Drauradweg ist 710 km lang und führt durch Österreich, Italien, Slowenien und Kroatien.

E-Auto für Mitarbeiter und Mitglieder

Das vor der Raiffeisenbank geparkte E-Auto steht Mitarbeitenden – vom Azubi bis zum Vorstand – wie Mitgliedern zur Verfügung. Für berufliche Fahrten und für die Freizeit. Mit zwei Buchungen pro Tag verzeichnet Ortner eine gute Auslastung, rund 30.000 Kilometer kämen im Jahr zusammen. „Unsere Kundinnen und Kunden nutzen den Wagen teils als Zweitauto“, erklärt Ortner. Jetzt denke man mit dem Partner, der RegionalEnergie Osttirol, über eine Erweiterung des Angebots nach: „Die Kapazitätsgrenze ist erreicht.“ Ein Hinweis, der Akteure des Bezirks aufhorchen lässt. 

V wie Verträglich abwickeln

Denn zum „Verträglich abwickeln“ zählt auch die E-Mobilitätstrategie. Wenn es schon das eigene Fahrzeug sein muss, dann soll es in Zukunft – wie auch der österreichische Weg im Masterplan vorgibt – ein E-Fahrzeug sein. Oder dass Fahrgemeinschaften entstehen. Wenn nur ein Auto statt drei Autos zum Arbeitsplatz unterwegs sind, ist das schon verträglicher. Und es ist die Zukunft: Waren vor drei Jahren noch mehr als 70 Prozent der Arbeitnehmer der großen Unternehmen mit dem Auto unterwegs, sollen es in Zukunft weniger als 40 Prozent sein. Das ergab eine groß angelegte osttirolweite Werkverkehrsstudie mit den großen, teils international tätigen Unternehmen im Bezirk Lienz.

Osttirols Mobilität in Zahlen

Einzigartige Werksverkehrsstudie in Osttirol

Liebherr als einer der größten Baumaschinenhersteller der Welt nahm ebenso teil wie die Durst Group AG, weltweit spezialisiert auf Kopier- und Drucktechnik und HELLA, der in Osttirol ansässige Spezialist für Sonnen- und Wetterschutztechnik. Das Holzindustrie-Unternehmen Theurl hat im Sommer 2022 ernst gemacht: Es stellt seinen Mitarbeitenden E-Scooter zur Verfügung – auf Wunsch mitsamt Tirol-Ticket. Damit sind Theurl-Beschäftigte wie zum Beispiel Michael Simoner nicht nur umweltfreundlich, sondern auch sehr kostengünstig unterwegs. Den E-Scooter nimmt er bequem mit in den Bus oder in die Bahn, allesamt nutzt er auch privat. Selbst zum Supermarkt cruist der 27-Jährige auf zwei Rädern; seine Einkäufe transportiert er im Rucksack nach Hause. Laden kann er das Fahrzeug zuhause an der Steckdose oder kostenlos auf dem Firmengelände. Als dritte Möglichkeit bietet das Unternehmen Bike-Leasing an. „Hierbei können unsere Mitarbeiter sogar Steuern sparen“, sagt Theurl-Personalverantwortliche Simona Tiefenbacher. Und: Wer in der Stadt wohnt, wählt für den Weg zum Sägewerk vielleicht ein City-Bike. Kolleginnen oder Kollegen, die am Berg wohnen, steht ein E-Bike oder Mountainbike – je nach Wunsch – zur Verfügung. 

Digital zum Talschluss

Um im Bezirk Lienz bis ans Ende des Tals vor die Haustür ohne eigenes Fahrzeug mobil zu sein, ruft man das Anrufsammeltaxi AST. Waren erst die Gemeinden und Vereine Betreiber des AST im Defereggental, fährt es heute unter dem Dach des Verkehrsverbunds Tirol (VVT), mittlerweile auch im Pustertaler Oberland. Der Clou: Man muss keine eigene Fahrkarte mehr kaufen, denn sie gilt auch die für die anderen Verkehrsmittel des VVT. Und die Fahrten lassen sich bequem über die SmartRide-App buchen, die für ganz Österreich gilt und auch Südtirol beauskunftet. „Bei einer Gemeinde mit 700 Einwohnern keine Kleinigkeit“, sagt Manfred Mair. Denn auch so ein Projekt müsse irgendwann gewinnbringend laufen. Dass das passiert, soll die Erweiterung mit flexiblen Haltestellen garantieren. Hält das Sammeltaxi derzeit noch an einer, vielleicht zwei Haltestellen innerhalb einer Gemeinde, können Fahrgäste künftig vorher selbst angeben, wo sie aussteigen möchten und mehrere zur Verfügung stehende virtuelle Haltestellen buchen. Mit einem Lächeln. Und gar nicht müde – im Gegenteil. Es geht bergauf, auch in Sachen nachhaltiger Mobilität – digital, innovativ und vor allem kreativ.

Meinung

Der Kommentar von Anton Thum

BMW-Händler Anton Thum in Lienz
Anton Thum

Anton Thum führt in dritter Generation dass nun älteste Autohaus im Bezirk Osttirol. Seit mehr als 70 Jahren ist der Händler FIAT-Partner, seit mehr als 35 Jahren steht er im Bezirk auch für die Marke BMW.

Der Begriff Nachhaltigkeit wird heute oft missbraucht. Schöner ist eigentlich der englische Begriff Sustainability – was übersetzt „ertragen“ heißt. Ich betrachte die drei „Vs“ aus dem Blickwinkel der drei Säulen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie und Soziales.

V wie: Vermeiden wir das tägliche Pendeln der Osttiroler Arbeitnehmer aus den hintersten Tälern in den Ballungsraum zur Arbeit. Ökologisch doch sinnvoll. Alle Pendler ziehen am Montag früh nach Lienz. Zusätzlicher Wohnraum bremst die Euphorie. Auch die ökonomische Betrachtung fällt wohl negativ aus. Und Sozial: Für die Familien wie auch die Gesellschaft – Feuerwehr, Sportverein, Musikkapelle etc. – ein No-Go und wohl kaum zu ertragen.

V wie: Verlagern wir das Pendeln auf den ÖPNV. Öffi-Ticket zum Sonderpreis. Damit ein Häkchen nicht nur bei Ökologie, sondern auch bei Ökonomie. Und Sozial? Wie schaffe ich die 300 Höhenmeter zur nächsten Haltestelle? Wie viel Zeit kostet dreimal umsteigen bei einem Stundentakt? Kann man das ertragen?

V wie: Wie verträglich ist moderner Individualverkehr? Die Industrie hat auch die Kurve zum Technologiewechsel so gut wie genommen. Wie schnell die neuen Antriebsformen ökonomisch Sinn ergeben und damit erträglich werden, hängt mit vom Ausbau der Infrastruktur ab. Er hinkt mehr als deutlich hinterher. Vorschriften zu machen ist halt leichter als die eigenen Hausaufgaben.

Die aufgezeigten netten Ideen bringen nur im Kleinen etwas. Aber sie können uns alle animieren auch im eigenen Bereich was zu tun. Dann geht schon mal was. Ein Bündeln der Bestrebungen würde helfen, die Kraft auf den Boden zu bringen. Aber: Individuellen Personenverkehr im ländlichen Raum zu verteufeln hilft lediglich, die Entvölkerung der abgelegenen Seitentäler zu beschleunigen.

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